Erich Salomon und die Erfindung der fotografischen Indiskretion

Das Foto entstand um zwei Uhr morgens bei einer Konferenz in Den Haag: erschöpfte Minister – Loucheur reibt sich die Augen, Tardieu liegt zurückgelehnt auf dem Sofa, Cheron döst, Curtius fast eingeschlafen. - Dr. Erich Salomon, 1930.

Keiner kam den Reichen und Mächtigen so nah wie er. Erich Salomon war eine ungewöhnliche Mischung aus charmantem Chronisten und fotografischem Künstler – mit einem Blick nicht nur für den Moment, sondern auch für das Ungewöhnliche. Obwohl er in höchsten Kreisen, besonders der internationalen Politik, ein- und ausging, wurde auch er ein Opfer der Nationalsozialisten.

Erich Salomon mit Ermanox.

Salomon war ein Meister der Offenblende. Doch sein Antrieb war nicht das Piktorale, nicht der ästhetische Effekt, sondern der Einblick – in Räume und Situationen, die bis dahin unsichtbar geblieben waren. Offenblende mag heute als Look und Kunst gelten – und ist dank Eye-AF keine technische Herausforderung mehr. Historisch jedoch war Lichtstärke kein Stilmittel, sondern eine Revolution: ermöglicht durch Mobilität, Geschwindigkeit – und Unauffälligkeit.

Salomons Werkzeug: die Ermanox, eine damals völlig neuartige Kamera mit einem fest verbauten Ernostar f/1.8-Objektiv. Kompakt, leise, lichtstark – und ideal für diskrete Fotografie bei Innenlicht. Während andere mit Stativ und Blitz hantierten, fotografierte Salomon aus dem Halbschatten, im Vorbeigehen, aus der Hüfte.

Das machte ihn zum Urvater der „Candid Photography“. Seine besondere Fähigkeit bestand darin, Zugang zu gesellschaftlichen und politischen Eliteveranstaltungen zu erhalten – und dort intime, ungestellte Aufnahmen zu machen, meist ohne dass die Fotografierten überhaupt bemerkten, dass sie fotografiert wurden. Diese Form diskreter Beobachtung – später prägend für den dokumentarischen Stil des 20. Jahrhunderts – verlieh seinen Bildern eine seltene Mischung aus Nähe, Authentizität und Eleganz.

Er war kein Fremdkörper, sondern Teil der Szene. Konferenzen, auf denen etwas galt, rechneten mit ihm. Man erwartete fast schon, dass der gewandte Dr. Salomon irgendwo auftauchte – höflich, elegant, aufmerksam.

Salomon wurde 1886 in Berlin geboren. Er studierte Zoologie, Maschinenbau und schließlich Jura in Rostock, wo er 1913 sein Examen ablegte und promovierte (1). Im selben Jahr wurde er zum Militär eingezogen und geriet nach der Schlacht an der Marne 1914 in französische Kriegsgefangenschaft.

Gerichtsprozess gegen den Ringverein Immertreu, Tarnorganisation Berliner Krimineller, später Vorbild für Fritz Langs Film M. - Dr. Erich Salomon 1929

Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er zunächst an der Berliner Börse, dann in einer Klavierfabrik und schließlich mit einem eigenen Autoverleih. 1925 fand er eine Stelle in der Werbeabteilung des Ullstein-Verlags. Dort entdeckte er 1927 bei einer Kampagne für Plakatwerbung in ländlichen Gebieten seine Leidenschaft für Fotografie – und kaufte seine erste Kamera: die Ermanox.

Diese kleine Kamera ermöglichte es ihm, auch unter schlechten Lichtverhältnissen diskret zu fotografieren. Seine erste große Sensation gelang ihm 1928: Bei einem prominenten Mordprozess, bei dem Fotografieren im Gerichtssaal verboten war, schmuggelte er die Kamera in einer Melone hinein – und lieferte die einzigen Bilder des Prozesses. Ihr Abdruck in der Berliner Illustrierten Zeitung machte ihn über Nacht bekannt.

Er fotografierte Aristide Briand, Stresemann, Curzon, Mussolini – nicht, wie sie gesehen werden wollten, sondern wie sie in unbeobachteten Momenten waren. Legendär wurde seine Aufnahme vom Völkerbundkongress 1930 in Genf: Statt großer Gesten zeigte er übermüdete Delegierte – eingeschlafen, erschöpft. Das Schicksal eines Volkes – und einer ganzen Welt – als Verhandlungsmasse brandyschwerer Politiker, nachts um halb zwei.

Salomon hatte damit eine neue Bildsprache geschaffen: die politische Fotografie als indiskreten Blick hinter die Kulissen.

Aristide Briand zeigt auf Salomon und ruft: „Ah ! Le voilà ! Der König der Indiskreten!“ - Dr. Erich Salomon 1931

Aristide Briand sagte einst:
„Kein internationaler Kongress ist vollständig ohne Herrn Salomon.“

In dieser Mischung aus Nähe, Mobilität und Diskretion war Salomon ein Vorgriff auf Cartier-Bresson und Capa. Letzterer nannte ihn ebenso wie Werner Bischof und Inge Morath als Vorbild. Das, was Cartier-Bresson später „den entscheidenden Augenblick“ (le moment décisif) nannte, lebte Salomon bereits.

1930 verbrachte Salomon mehrere Monate in den USA. Er fotografierte unter anderem Marlene Dietrich und besuchte William Randolph Hearsts Anwesen in San Simeon. 1931 erschien sein Buch Berühmte Zeitgenossen in unbewachten Augenblicken – ein früher Meilenstein des Bildjournalismus.

Als Jude floh Salomon 1932 aus Deutschland in die Niederlande und arbeitete dort als freier Fotograf weiter – mit Reisen nach England, Frankreich und in die Schweiz. Nach der Besetzung der Niederlande durch die Wehrmacht lebte er im Versteck, wurde jedoch 1943 verhaftet und im Juli 1944 gemeinsam mit seiner Frau Magdalene in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert.

Am 7. Juli 1944 – heute vor 81 Jahren – wurden Magdalene und Erich Salomon dort ermordet. Er war den Großen der Welt nahe wie kaum ein anderer – und doch am Ende, wie so viele andere, schutzlos ausgeliefert. Ermordet von einem Regime, das die Inszenierung über die Realität stellte.



(1) Erich Salomon führte den Doktortitel und wurde zeitgenössisch oft als „Dr. Erich Salomon“ bezeichnet. Allerdings ist nicht eindeutig dokumentiert, in welchem Fach er promovierte. Es wird allgemein angenommen, dass es sich um eine juristische Promotion handelt, da er 1913 sein Jurastudium an der Universität Rostock abschloss. Die damalige Praxis war es, nach dem Examen den Titel „Dr. jur.“ zu erwerben – auch wenn die Promotionsurkunde selbst in Salomons Fall bislang nicht öffentlich auffindbar ist. In zahlreichen historischen Quellen und zeitgenössischen Presseberichten wird er jedoch durchgehend als Dr. Salomon geführt, was auf eine formelle Promotion schließen lässt.

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